Zum neuen Jahr

Merkels Märchenstunde

“Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

das neue Jahr steht bei uns in Deutschland ganz im Zeichen des Märchens. Das tun andere Jahre, wie Sie gleich sehen werden, zwar auch. Aber 2013 ist das Jahr der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Schon kurz vor Weihnachten haben wir sie gefeiert, als sich das Erscheinen ihrer Märchen zum 200. Mal jährte. Und im September begehen wir den 150. Todestag von Jacob Grimm – wohl fast gleichzeitig mit der Bundestagswahl. Erlauben Sie mir aus diesem Anlass ein paar Gedanken zur Bedeutung des Märchens in der heutigen Politik.
Märchen, liebe Landsleute, erzählen uns nicht die Wirklichkeit, doch genau darin liegt oft ihre tiefe Wahrheit. Sie helfen uns gerade dadurch, wahr und falsch, Gut und Böse besser zu unterscheiden. Man könnte auch sagen: Jenseits der Wirklichkeit ordnen sie die Welt ganz neu -und geben uns damit das wärmende Gefühl, die Dinge zu verstehen.

Und genau darum, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, sind Märchen, vor allem unsere deutschen Hausmärchen, ein ideales Vorbild für uns Politikerinnen und Politiker. Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen:
Ich könnte Ihnen heute erzählen, was die europäische Finanzkrise mit deutscher Lohnsenkungspolitik, mit einseitiger Exportorientierung und Steuerdumping zu tun hat. Aber seien wir ehrlich: Wäre das nicht eine kalte, das Unwohlsein fördernde Geschichte, noch dazu ohne Happy End? Möchten Sie nicht auch lieber glauben, es handele sich um eine „Staatsschuldenkrise“ und wir Deutschen könnten Europas Profiteure bleiben, wenn nur die anderen ihre „Hausaufgaben“ machen und sich wie „schwäbische Hausfrauen“ benehmen?

Sehen Sie, verehrte Landsleute, das ist Ihnen lieber. Menschen brauchen Märchen, auch meine.
Ich könnte Ihnen erzählen, dass selbst eine milde Besteuerung der großen und zuletzt kräftig gewachsenen Vermögen einen erklecklichen Milliardenbeitrag zur öffentlichen Entschuldung leisten könnte. Oder dass wir sogar an der Euro-Krise verdienen, weil auch wir bei den Krisenländern hohe Zinsen kassieren. Aber ehrlich: Würde das nicht wieder dieses quälende Begehren in Ihnen wecken? Diesen Wunsch nach auskömmlichen Renten oder einem bezahlbaren Ticket für pünktliche Bahnen oder Kindertagesstätten für alle, die sie wollen?
Ist es nicht besser, sich häuslich und wunschlos einzurichten im Schäubleschen Märchen von der besseren Mütterrente, die wir nicht bezahlen können, weil der Grieche so viel kostet? Sehen Sie! Und zugleich sind Sie damit besser vorbereitet auf die Kürzungen, die wir beschließen werden, wenn Sie uns im neuen Jahr wieder wählen. Wie schon gesagt: Märchen, so erfunden sie sind, machen Menschen stark für die Wirklichkeit.
Ich könnte Ihnen erzählen, wie sehr uns deutschen Politikern die Abschottung Europas gegen Flüchtlinge am Herzen liegt. Wie recht es uns ist, dass sich über die regelmäßig im Mittelmeer Ertrinkenden, das „Abschieben“ der Migrationsprobleme an die europäischen Außengrenzen oder die rassistischen Ausfälle gegen Asylbewerber in Griechenland und anderswo bei uns kaum jemand erregt.

Noch einmal ehrlich: Es lebt sich doch für uns alle besser mit dem Märchen von deutscher Weltoffenheit, die allerdings bei „Wirtschaftsflüchtlingen“ naturgemäß endet – also zum Beispiel bei gettoisierten und diskriminierten Sinti und Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien. Wird nicht auch in den Märchen der Brüder Grimm mit Leiden und Tod bestraft, wer unbescheiden vergisst, wo sein Platz ist und seine Pflicht?

Liebe Landsleute, es ist kein Zufall, dass die großen Gebrüder Grimm in Deutschland geboren wurden. Kein Volk der Erde dürfte für Mythen und Märchen so empfänglich sein wie wir, gerade wenn es um die Aufteilung der Welt in Freunde und Feinde, Unschuldige und Schuldige geht. Nirgendwo sonst dürfte die Bereitschaft so groß sein wie bei uns, sich die eigene kleine Welt so

zu bauen, wie sie uns gefällt – sei es in Häusern aus Stein oder in fantastischen Gedankengebäuden.
Ich hoffe, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Ihnen auch im vergangenen Jahr dabei ein bisschen geholfen zu haben. Und für 2013 sage ich: Lassen Sie uns weiter gemeinsam träumen! Ich wünsche Ihnen alles Gute und Gottes Segen.”

Nach Stephan Hebel, FR 29./30. Dezember 2012